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Historisierendes Bauen – es greift um sich

Was sind die Beweggründe? Ein wunderbarer Artikel vom BR-Redakteur Moritz Holfelder

Was der Rückbau von Städten über die Gegenwart verrät

Frankfurt hat Teile der historischen Altstadt wiederhergestellt, Berlin errichtet das Stadtschloss neu. In vielen Städten macht sich eine architektonische Absage an die Moderne breit. Daraus spricht vor allem eine Unsicherheit unserer Zeit.
Gerade sind beim Verlag Schirmer Mosel zwei Bildbände herausgekommen mit alten Ansichten von Berlin. Einmal sind es Photographien von Heinrich Zille, die zwischen 1890 und 1910 entstanden, daneben gibt es einen Band des großen Stadtbild-Photographen Leopold Ahrendts, der zwischen 1854 und 1870 „Berlin als Residenzstadt“ in Szene setzte.
Wer sich Ahrendts kunstvolle Bilder, die den urbanen Raum bühnenhaft arrangieren, anschaut, der entdeckt ein ganz anderes Schloss, als es sich jetzt rekonstruiert zwischen Alexanderplatz und Unter den Linden wieder erhebt. Der taucht ein in ein seltsam weltentrückt wirkendes Berlin, fast menschenleer und noch ohne Autos. Nur da und dort, um 1860, ein paar Kutschen. Und wenn, wie auf der Spandauer Straße ganz in der Nähe des Stadtschlosses, neben einigen Pferde-Droschken fünf Menschen zu sehen sind, hat der Fotograf sein Bild bereits mit „Geschäftiges Leben“ betitelt.
Dass jetzt der wuchtige Schlosskasten wieder eingezogen ist in die Mitte Berlins und die Blickachsen belegt, holt die Vergangenheit allerdings nicht zurück. Dass er das Stadtbild heile, wie es in den Verlautbarungen des „Fördervereins Berliner Schloss“ heißt, ist Augenwischerei. Geheilt ist nämlich gar nichts – und die Frage wäre sowieso: was und von wem?

Kampf um die historische Mitte

Vielmehr macht sich eine architektonische Mutlosigkeit breit, eine Absage an die Moderne, wie man sie im Moment nicht nur in Berlin beobachten kann, sondern auch in Nürnberg, Dresden, in Frankfurt mit seiner neu errichteten Altstadt oder in Potsdam, wo ebenfalls um die historische Mitte gekämpft wird. Dort geht es um den fragwürdigen Abriss von Gebäuden der Moderne wie etwa der Fachhochschule sowie um den Nachbau von alten Palästen wie dem aseptischen Barberini-Museum. Seltsam uninspiriert und rückwärtsgewandt erscheinen diese Eingriffe, wobei das neue alte Schloss in Berlin sogar in den Stand einer national prägenden Architektur erhoben wird. Immer wieder ist vom wichtigsten Kulturvorhaben Deutschlands die Rede, welches nächstes Jahr mit dem Einzug der ethnologischen Sammlungen aus Dahlem ins Humboldt Forum vollendet werden soll.
Rein baulich handelt es sich um einen ewig langen Klotz aus Beton, 35 Meter hoch, ein modernes Gebäude, dem die historische Fassade als Behauptung nur vorgemauert wurde. Steril und ohne Patina. Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die sich viel mit Rekonstruktionen beschäftigt, spricht von „Architektur aus dem Archiv“ – und weist darauf hin, dass jede historische Kopie eigentlich von der Frage begleitet werden sollte, warum wir uns in welche Geschichte zurückbauen.
Assmann bevorzugt die Vielfalt sowie den Dialog statt der Kontroverse. Wenn sie von der Vielgestaltigkeit der Stadt spricht, darf man nicht vergessen, dass die nie so einheitlich, heil und geschlossen war, wie das die Traditionalisten in ihrer Begeisterung über Rekonstruktionen jetzt gerne behaupten. In Berlin ist die Hoffnung auf die nun stattfindende Vervollständigung der historischen Mitte purer Unsinn. Das lässt sich schön auf den historischen Aufnahmen des Fotografen Leopold Ahrendts studieren. Dem neuen Schloss fehlt etwa der kleinteilig charmante Apothekenflügel vom Ende des 16. Jahrhunderts, der 1950 endgültig abgerissen wurde. Und auch auf die wundersam gestückelte Ostfassade hat man verzichtet. Jetzt steht dort eine monoton einfallslose Rasterfassade, weil das Schloss auch eine moderne Flanke erhalten sollte, um so seine Gegenwärtigkeit zu betonen. Eine seltsame Idee, nicht Fisch und nicht Fleisch.

Sehnsucht nach dem Authentischen

In der Zeit, in der der Fotograf Leopold Ahrendts „Berlin als Residenzstadt“ abbildete, zwischen 1854 und 1870, kurz vor der Reichsgründung also, verdoppelte sich die Einwohnerzahl Berlins. Man spricht von einer Bevölkerungsexplosion, damals verursacht durch die Ansiedlung großer Industriebetriebe sowie durch Eingemeindungen. Die Regierung kaufte ganze Innenstadtviertel auf, um sie mit repräsentativen Großbauten zu besetzen. Es gab Proteste gegen die Umwandlung der beschaulichen Residenzstadt in eine zukünftige Weltmetropole – und nicht wenige vermissten um 1860 schon das alte Berlin. Wer ehedem verschwundene Gebäude rekonstruiert, baut an nostalgisch verfälschten Geschichtsbildern.
Die Rekonstruktion des Berliner Schlosses gaukelt eine Kontinuität vor, die es nie gab. Das mag für den einen oder anderen identitätsstiftend sein, oder auch nicht. Eines steht fest: Ein Schloss ist noch nicht genug. Beim Verein Berliner Historische Mitte e.V. kann man eine Petition unterschreiben für die „Wiedergewinnung der Stadtidentität“. Für viele Bürger geht es um die „REURBANISIERUNG auf dem historischen Stadtgrundriss zwischen Nikolaiviertel und Hackeschem Markt“. Ganze Viertel sollen revitalisiert werden. Man wolle eine lebendige Mitte schaffen, heißt es, die gleichzeitig eine hohe Aufenthaltsqualität biete.
Von einem Urban Return ist die Rede, wobei zumindest die damit verbundene Verbannung der Autos aus der Mitte der Stadt als fortschrittlich bezeichnet werden kann. Umwelttechnisch lässt sich diese Argumentation in den Zeiten von Co2- und Stickoxid-Debatten nachvollziehen. Im Grunde geht es aber um tiefere emotionale Schichten der Verortung und Selbstbestimmung. Eben erneut um die Frage: Wie lässt sich eine verwundete Stadt heilen? Wie entsteht dadurch Identität? Was braucht es dafür? Das sind Prozesse, mit denen sich der in Wien geborene und an der Uni in Luzern arbeitende Historiker Valentin Groebner in vielen Vorträgen beschäftigt – gerade ist sein Buch „Retroland: Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen“ erschienen.
Es geht um Architektur als Ausdruck für eine Vergangenheit, in der die Welt scheinbar noch frei war von Chaos. Frei von verwirrender Unübersichtlichkeit. Diese Retro-Ordnung ist laut Groebner ein Konstrukt, oft wird sie als touristisches Versprechen vermarktet. Denn viele Menschen halten sich im Urlaub am liebsten dort auf, wo es so ist wie früher. Ein kognitiver Trick, um eine Welt vorzugaukeln, in der es keine Veränderungen gibt, zumindest nicht zum Schlechten. In der wir uns sicher fühlen können. Aufgehoben und nicht der Globalisierung ausgesetzt. Man sucht Orte auf, mit denen man identisch wird.
Die kürzlich rekonstruierte Frankfurter Altstadt sieht der Historiker nicht als Ort, sondern als Bild. Als Inszenierung eines Bildes. Etwa im Sinne des wieder entstandenen Weges vom Römer bis zum Dom, auf dem angeblich die Kaiser des Mittelalters bei ihrer Krönung durch Frankfurt schritten. Nun kann jeder Besucher der Altstadt dieser Route folgen. In einer Art Disney Land kann man Regent spielen, ohne freilich genau zu erfahren, von wann bis wann in Frankfurt überhaupt gekrönt wurde, warum dort und unter welchen Umständen. Touristisch gesehen macht Frankfurt alles richtig, meint Groebner, weil es sich jetzt als Kaiserstadt neu in Szene setzen kann. „Tourismus beschwört eine Zeit herauf, die es nie gegeben hat. Das Reden über Identität ist gewöhnlich der Hinweis auf einen Mangel, auf ein Loch.“

Tröstliche Maßstäblichkeit mittelalterlicher Kopien

Und so entstehen allerorten Baulöcher, aus denen neue Identitäten erwachsen. Wir gehen vorbei an den Rekonstruktionen des Vergangen und bewegen uns durch die tröstliche Maßstäblichkeit mittelalterlicher Kopien. Wir fühlen uns scheinbar wohl, auch wenn das, wie in Frankfurt, nur zwei, drei Gassen sind, zwei, drei Höfe, mehr nicht, aber die Wirkung ist enorm.
Natürlich war in der Vergangenheit nichts besser als in der Gegenwart, vieles war schlechter. Aber der retroselige Blick verhindert, sich mit dem zu konfrontieren, was einem im Hier und Jetzt schlechter erscheinen mag.
Die mit dem Wiederaufbau der Frankfurter Altstadt beauftragte DomRömer GmbH lud vor einem Jahr zu einem Tag der offenen Baustelle ein – der historische Krönungsweg, der durch das neue Stadtviertel führt, konnte erstmals begangen werden. Der amtierende SPD-Bürgermeister Peter Feldmann bot persönlich Führungen an.
Rekonstruktion ist auch eine politische Frage
Er gilt nun endgültig als Vater eines Museumsdorfes, das keine Pappkulisse sein will, und in dessen 35 Häusern gewohnt und gearbeitet wird. In dem sich Gegenwart und Mittelalter verbinden. Irgendwie. Dieser wundersame Zustand der Zeitlosigkeit oder vielmehr der Inszenierung eines scheinbar organischen Kontinuums gefällt als verführerisches Vademecum, das den Besucher und Bewohner die eigene Vergänglichkeit ein wenig vergessen lässt. Alles ist im Fluss. Die grundlegende Frage, welchen Teil der Vergangenheit man rekonstruiert und wach hält in der Erinnerung, ist natürlich eine politische.
Es gäbe ja noch andere Vergangenheiten. Nähere wie fernere. Letztlich funktioniert die Rekonstruktionsarchitektur nach denselben Mustern wie der Rechtspopulismus: Die Probleme von heute lassen sich durch die Lösungen von gestern verdrängen. Viele Menschen erwarten sich von der Zukunft nichts Besseres mehr, also wird mit aller Kraft zurückgerudert. Das macht zwar keinen Sinn im Sinne eines Fortschrittgedankens, aber dem strukturellen Pessimismus demographisch alternder Gesellschaften entspricht es sehr wohl. Dass wir uns im wahrsten Sinne des Wortes die Zukunft verbauen, wird bedenkenlos verschwiegen.
Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann warnt davor, nur zurückzublicken – für sie sind, mit einer gewissen inhaltlichen Distanz, vor allem die lebhaften Debatten wichtig, die sich rund um den Wiederaufbau von Gebäuden entwickeln können: „Es ist immer ein Kampf darum, was geht und nicht geht.“

Autor: Moritz Holfelder BR24-Kultur (Link zum Original-Artikel)